Kreise malen

Ein Mädchen ist ständig überwältigt von Angst ohne Grund und verzweifelt daran, ihre Furcht niemandem anvertrauen zu können.
Wortanzahl: 1.098

Die Ärmel so weit über die Hände gezogen, dass nur noch die nachlässig schwarz lackierten Fingernägel hervorschauten und dass die Wärme des Tees in ihrer Thermoskanne nur ein sanftes sensorisches Ereignis auf den von Stoff bedeckten Handflächen hervorrief, saß sie auf der Fensterbank und schaute hinaus. Mit einem seltsamen Gefühl der Entfremdung blickte sie auf die bunten Menschen, die über den grauen Schulhof eilten und dass sich der Klassenraum um sie herum nun allmählich auch mit Angehörigen jener Rasse zu füllen begann, nahm sie dank der Musik, mit der sie sich auftankte, fast gar nicht wahr.
Glücklicherweise. Denn in dem täglich wiederkehrenden Augenblick, in dem sie gezwungen war, die Stöpsel aus den Ohren zu nehmen und sich von der Welle an menschlichen Geräuschen, Gesten und Gesichtsausdrücken überfluten zu lassen, begann das kleine Sterben in ihr.

Als ihr auffiel, dass auch ihre Sitznachbarin und Freundin Svantje angekommen war, schwang sie sich widerwillig von der Fensterbank und huschte quer durch den Klassensaal zu ihrem Platz ganz hinten in der Ecke. Sie nahm Platz und nickte ihrer Freundin zu, das nächste was sie tat, war das, was sie zu Beginn jeder Unterrichtsstunde als erstes tat: Sie zog ihren Collegeblock sowie einen schwarzen Fineliner aus ihrer Umhängetasche. Wann genau es begonnen hatte, wusste sie gar nicht mehr genau, doch irgendwann hatte die Nervosität in ihr auf eine stete Beschäftigung ihrer Hände beharrt. Seitdem füllte sie den ganzen Schultag hindurch Seite um Seite ihres Blockes mit Kringeln und Kreisen, Schneckenhäusern und Schnörkeln, nie jedoch mit Mitschriften zum Unterricht. Irgendetwas in ihr blockierte die Aufnahme von Wissen durch einen ständigen Überschuss an Angst, doch das wagte sie weder auszusprechen, noch in ihr Bewusstsein zu lassen. Stattdessen malte sie Kreise.

Wie so oft spürte sie, obwohl sie vorgab, gespannt nach vorne zum Lehrer zu gucken, die besorgten Blicke Svantjes, die auf ihr ruhten. Seit Tagen schon schaute ihre Freundin sie so an, und sie wünschte sich so sehr, dass sie einfach etwas sagen könnte, dass sie den Mund öffnen könnte und verkünden: „Du, hilf mir, bitte. Ich hab’ solche Angst.“
Stattdessen schwieg sie.
(Abgesehen von allem anderen hatte sie auch das Sprechen verlernt.)

Wie jede Schulpause saß sie mit Svantje und ein paar anderen Mädchen an einem der Tische im Foyer und wie jede Schulpause beteiligte sie sich nicht an den Unterhaltungen, bemühte sich aber, an den richtigen Stellen zu lächeln oder wissend zu nicken.
Was, wenn sie darin versagen würde? Wenn sie etwas falsch machen würde? Nicht gespannt genug blickte, nicht verständnisvoll genug wirkte? Es gab so unendlich viele Möglichkeiten, etwas Falsches zu tun und sie wünschte, sie hätte ihren Block mit hinunter genommen und könnte jetzt Kringel zeichnen.

Der Schultag verging wie jeder andere, viel zu langsam und doch so schnell, dass alles irgendwie an ihr vorbeirauschte. „Ich geh’ noch schnell mal auf’s Klo!“, murmelte sie Svantje zu und dies war vielleicht sogar der längste Satz, den sie an diesem Tag gesagt hatte. Hastig schlängelte sie sich durch die Reihen der aus ihren Sälen strömenden Schüler um sich schließlich in einer rettenden Toilettenkabine einschließen zu können. Die Beine angezogen saß sie so für eine Weile auf dem Klodeckel, ihre Finger malten abwesend runde Formen an die dreckigen Kunststoffwände.
Erst als der Lärm der in die Freiheit Eintlassenen langsam abklang, konnte sie wieder ein Bisschen durchatmen. Sie schob den Ärmel ein wenig hoch und blickte auf ihre Armbanduhr. Den ersten Bus hatte sie verpasst, sehr gut – im nächsten würden deutlich weniger Menschen sein.

Als sie über den nun recht leeren Schulhof ging, durchfuhr sie plötzlich ein heißer Schreck. Sie hatte ihren Thermosbecher im Klassensaal vergessen! Längst schon wunderte sie sich nicht mehr, dass solche Kleinigkeiten ihr unermessliches Herzrasen bereiteten, sondern ließ einfach die Gedankenflut zu, die nun auf sie hereinprasselte: „Wenn ich jetzt hochrenne / ist der Lehrer vielleicht noch da /aber ich will ihm nicht alleine begegnen / ich wirke doch bestimmt / blöd / nervig / ich weiß nicht / den Bus will ich auch nicht verpassen / aber mein Becher / woran halte ich mich denn jetzt fest / verdammt / oh Gott / was tu ich“
Unkoordiniert stürzten die Satzfetzen über ihr zusammen und für ein paar Minuten konnte sie nur wie erstarrt stehen bleiben und sich auf das Atmen konzentrieren. Als das wieder funktionierte, lief sie langsam zur Bushaltestelle. Nur nicht umkehren, nie zurückgehen, nach Hause und einschließen.

In den sicheren vier Wänden angekommen musste sie gleich schon wieder erschrecken – das Telefon klingelte. Die Nummernanzeige verriet ihr zwar, dass es Svantje war, doch wann hatte sie mit ihr zuletzt telefoniert. Zögernd hob sie den Hörer ab und meldete sich mit einem fragenden „Hallo?“ Während sie auf das Schweigen lauschte, das sie irgendwie nervös machte, begab sie sich in ihr Zimmer und legte sich auf ihr Bett.
„Ich wollte…dich etwas fragen.“ Svantje klang so verunsichert, wie man sie nur selten hörte.
„Dann…frag doch?“ Sie bemühte sich, selbstsicher zu klingen, doch vermutlich wirkte sie nur forsch und ihr Herz schlug so laut, sie konnte fast nicht atmen.
„Du bist so komisch in letzter Zeit. Du redest fast gar nicht mehr, du schaust mich ja nicht mal mehr direkt an, und dauernd kritzelst du auf deinem Block herum! Also, das ist natürlich nicht schlimm, aber der Rest. Jedenfalls ist es seltsam. Was ist denn mit dir los, kannst du mir das sagen?“
Konnte sie? Konnte sie sich es überhaupt selbst erklären? Sie war plötzlich so aufgeregt, dass ihr eigentlich schon übel war, und als sie sprach, klangen ihre Worte seltsam gepresst: „Ich weiß nicht so ganz. Ich glaube, ich habe Angst.“
Svantje am anderen Ende der Leitung seufzte hörbar. Es klang genervt, oder? Es musste doch genervt klingen! „Angst? Vor was denn?“
„Vor allem, glaube ich. Der Welt und den Menschen.“
Sie kniff die Augen zusammen und wünschte sich, sie hätte es nicht ausgesprochen, denn dadurch wurde es so real. So etwas sagte man doch nicht.
„Ich…verstehe nicht. Du warst doch früher nicht so!“
Ohne ein weiteres Wort (leergeredet) lies sie den Hörer aus ihrer Hand fallen.
Ja, früher war sie nicht so gewesen, aber jetzt schon.
Jetzt war sie zitternde Hände, ein viel zu schneller Herzschlag und Worte, die ihr Innerstes nie verlassen würden.
Jetzt war sie jemand, der die ehemals beste Freundin vor den Kopf gestoßen hatte, aber was änderte das überhaupt? Nichts. Da war nichts zu ändern. In ihr war sowieso schon alles Angst
Angst
Angst
und was sollte da noch schlimmer kommen?

Es kümmerte sie nicht mehr, und als Svantje dabei war, andere (sprechende) Freunde anzurufen, und im verhuschten Flüsterton davon zu erzählen begann, wie komisch sie doch geworden war, malten ihre Augen längst Kreise an ihre Zimmerdecke.