Insekten

Ich hatte nie Stimmen in meinem Kopf, bekräftige ich noch ein mal für mich selbst, doch merke, dass meine Gedanken und Schritte immer schleppender werden. Nie Stimmen. Immer nur…Insekten.
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Wortanzahl: 404

Ich kann es spüren.
Sie sind in mir und ich kann es spüren.

Ich liege in meinem Bett und noch bin ich – im biologischen Sinne, wohlgemerkt – so lebendig, wie man nur eben sein kann; so lebendig, wie ich immer war. Schon seit meiner Geburt hat der Verfall begonnen, was das betrifft, bin ich mir sicher. Von Anfang an haben sie mich ausgehöhlt, Löcher und Gänge in diesen abstoßenden Körper gegraben, mich innerlich zernagt und jeden Ansatz der Gesundheit im Keim erstickt. Ich habe zu sterben begonnen, seitdem ich meinen ersten Atemzug tat. Das meine ich nicht in dieser logisch-faktischen “Mit jeder Sekunde des Lebens ist man eine näher am Tod”-Haltung, sondern in dem Sinne, dass ich nie dazu bestimmt war, am Leben zu sein.
So flüstert er mir jedenfalls das Kribbeln ein, das in meinen Gliedmaßen vorherrscht, als würden sich klebrig-ertrunkene Insekten durch verstopfte Blutbahnen kämpfen. Dabei ist mein Körper doch noch gar nicht bereit für den Leichenschmaus, die Vielfüßler sind unecht. Bevor ich mich verfüttere, und damit wenigstens nach meinem Tod zu etwas nütze bin, müssen die Pillen wirken. Lange kann es nicht mehr dauern. Mühsam kämpfe ich mich aus dem Bett, der weiche Stoff der Decke ist plötzlich eine für meine Hände unerträgliche Berührung. Auf bloßen Füßen, die im Dämmerlicht so fremd wirken (sind das meine Füße? ist das mein Körper?) taste ich mich nach draußen. Es war immer schön gewesen, einen Wald direkt hinter dem Haus zu haben, das Ungeziefer in mir scheint zu jubeln. Endlich bringe ich es für immer nach Hause.
Ich hatte nie Stimmen in meinem Kopf, bekräftige ich noch ein mal für mich selbst, doch merke, dass meine Gedanken und Schritte immer schleppender werden. Nie Stimmen. Immer nur … Insekten. Krabbelnde Mistviecher, die mit ihren dünnen Beinchen Worte in die Innenseite meiner Haut gestampft haben und mich oft wünschen ließen, es würde schneller zu Ende gehen. Mittlerweile bin ich so schwach, dass ich mich mit meinen Händen an den Bäumen abstützen muss, an denen ich vorüberwanke. Es ist mir unerträglich, etwas Reales, etwas aus der Außenwelt, anzufassen, fasst mich von innen doch schon genug an.
Als ich mich schließlich fallen lassen muss, bin ich deshalb auch zunächst angewidert von der unabstreitbaren Realität des Waldbodens unter mir. Ein Krabbeln von allen Seiten und ich Echt und Unecht nicht mehr auseinanderhalten.
Doch das macht nichts. Bald wird mich von Außen auffressen, was sich schon jahrelang innerlich an mir labte.

Veilchen

Ihr seid das Salz dieser Erde, so hieß es in der Bibel, doch dass sie auch das Blut, die Knochen und das Fleisch war, an denen die Erde sich labte, hatte ihr keiner gesagt.
Wortanzahl: 400

Violets are blue

Die Veilchen blühten lange in diesem Jahr und sie besuchte sie jeden Tag. Natürlich wusste sie nicht, dass es Veilchen waren, sie war noch klein und Blumen waren Blumen und Blau war eine schöne Farbe. In zärtlicher Bewunderung strich sie über die weichen Blütenblätter, die immer so kühl waren und sich trotzdem lebendig anfühlten. Ihre kleinen Freundinnen hatten Kätzchen und Kaninchen und sie hatte eben einen Garten. Bald begann sie, mit den Pflanzen zu reden, wie andere es mit Haustieren machten. In ihrem kindlichen Vertrauen erzählte sie von simplen Geheimnissen, in einfachen Sätzen goss sie die Blumen mit ihrer Seele.

Your blood is red

Ihre Mutter beobachtete sie beunruhigt vom Fenster aus. Anfangs hatte sie sich noch darüber gefreut, dass ihre Tochter im Freien spielte, doch unheimliche Veränderungen waren nicht zu leugnen. Als das Mädchen dazu übergegangen war, gar nicht mehr mit ihren Spielsachen, den Puppen, Teddybären Plastikautos zu spielen, hatte sie entschlossen, dass es Zeit war, einzugreifen und versucht, die Tochter durch Hausarrest mal wieder drinnen zu behalten. Vergeblich – sie hatte geweint und ihre kleinen Fäuste gegen Wände geschlagen, bis sie bluteten. Schließlich hatte ihre Mutter sie rausgelassen, hinter ihrer genervten Miene die schleichende Angst verbergend.
Der Garten tat irgendwas mit ihrer Tochter.

The Window was open

Sie lag in ihrem Bett und wartete. Der kühle Nachtwind, drang durch das Fenster und ließ sie frösteln, doch es stand außer Frage, es zu schließen. Heute musste es geöffnet sein, das wusste sie, wie sie vieles in letzter Zeit einfach wusste.
Sie konnte das Atmen des Gartens hören. Ihr Herz schlug schnell in ihrer Brust, halb Angst, halb Vorfreude und ganz Besessenheit. Früher hatte sie nach Mama gerufen, wenn sie Angst hatte, doch das durfte sie nun nicht mehr. Sie würde nie mehr nach ihrer Mutter rufen, sie würde nie mehr rufen, sie würde ihre Mutter nie mehr sehen.

I’m under your bed

Dass das Atmen nicht mehr von draußen kam, sondern aus ihrem Zimmer, erkannte sie nicht sofort.
Der Duft war es, der sie zunächst aufschrecken ließ. Ein Geruch nach nassem Moos, altem Holz, verfilztem Pelz. Nach Dunkelheit und Verfall und Veilchen. Die Finger in die vertraute Kuscheldecke grabend setzte sie sich auf und begann zu weinen, nicht wissend, dass die Natur sich ihre salzigen Tränen einverleiben würde.
Ihr seid das Salz dieser Erde, so hieß es in der Bibel, doch dass sie auch das Blut, die Knochen und das Fleisch war, an denen die Erde sich labte, hatte ihr keiner gesagt.